Ein weit verbreiteter Irrtum erklärt Ebbe und Flut mit der Fliehkraft. Tatsächlich ist die Gravitation die Triebfeder der Gezeiten, aber das ist sehr komplexe Physik. Der Astrophysiker Dr. Wolfram Schmidt begründet, warum die Erklärung mittels Fliehkraft zwar einfach klingt — aber so nicht stimmt.
Mit den Gezeiten leben die Küstenbewohner seit Jahrtausenden, haben sich mit Deichen gegen die Flut geschützt, Häuser auf Stelzen gesetzt und Häfen mit Dämmen gesichert. Dass die treibende Kraft für die Atmung der Ozeane irgendwie der Mond sein musste, das wussten schon die Menschen in der Antike. Denn der Erdtrabant war immer genau dann am höchsten Punkt seiner Bahn zu sehen, wenn auch die Flut am höchsten stand. Ein Mysterium war indes die zweite Flut pro Tag, die genau zwischen zwei nachvollziehbaren Fluten ihr Maximum erreicht.
Die eine Flut ist leicht erklärt
Isaac Newton hat das Rätsel entschlüsselt, als er vor rund 350 Jahren die Gravitation als universelle Kraft erkannt hat: Sie bewirkt, dass sich Massen gegenseitig anziehen. Die Erklärung der Flut auf der dem Mond zugewandten Seite war nun leicht verständlich:
Die Gravitationskraft zieht das Meer wie einen „Wasserberg“ zum Mond hin. Weil sich die Erde ständig um ihre eigene Achse dreht, wandert der Wasserberg wie eine Welle theoretisch permanent mit dem Mond um die Erde. Praktisch prallt er irgendwann gegen eine Küste, türmt sich dort zur Flut auf und schwappt dann, weil die Gravitation nachlässt, zurück. Das ist die Ebbe.
Warum zwei Fluten pro Tag?
Warum sich aber einen halben Tag später an derselben Küste erneut eine Flut aufbaut, obwohl der Mond inzwischen genau auf der entgegengesetzten Seite der Erde steht, das ist eine sehr komplexe Geschichte, die ohne eine gehörige Portion Astrophysik und Mathematik nicht verständlich ist.
Einfach dagegen klingen Erklärungen, die mit der Fliehkraft argumentieren. Sie kommen häufig in
vor – sind aber leider gespickt mit Ungenauigkeiten oder gar veritablen Fehlern. Stellvertretend für unzählige dieser schiefen Erklärungen der zweiten Flut sei hier der Wissenschaftsjournalist zitiert:„Das ist etwas komplizierter.”
„Das ist etwas komplizierter: Die Erde dreht um die eigene Achse, und zusätzlich bilden Erde und Mond ein gemeinsames System, welches um einen gemeinsamen Schwerpunkt dreht. Weil jedoch Mond und Erde unterschiedlich schwer sind, liegt die Drehachse nicht in der Mitte, sondern Richtung Erde. Bei dieser Rotation eiert unsere Erde also leicht, und die mondabgewandte Seite bewegt sich schneller. Ergebnis: Die Fliehkraft erzeugt einen zweiten Wasserberg. Unser Planet dreht sich also jeden Tag unter zwei Wasserbergen hindurch.“ Alles klar? Mir auch nicht.
Kein Wunder, denn die Erklärung ist so sehr verkürzt und vereinfacht, dass sie unverständlich geworden ist und in ihrem Fazit falsch: Die Fliehkraft erzeugt nicht den zweiten Flutberg. „Vergessen Sie die Fliehkraft!“, sagt der Astrophysiker Dr. Wolfram Schmidt von der Uni Hamburg. „Auch die zweite Flut wird ausschließlich durch die Gravitationskraft verursacht.“

Allerdings ist es verständlich, dass viele Autoren die Fliehkraft bemühen, denn selbst in
findet sich die zumindest wackelige Erklärung der zweiten Flut mittels Fliehkraft.Der Sündenfall, die allererste Quelle, die den Irrtum in die Welt gesetzt hat, scheint ein
aus dem Jahr 1898 zu sein. Seit dieser Veröffentlichung geistert die irrige Erklärung mit der Fliehkraft durch die wissenschaftliche Literatur. Vermutlich könnte man die Verbreitung der allerersten Erklärung anhand der Quellenangaben wie einen roten Faden nachvollziehen. Irgendwann allerdings scheint sich die fehlerhafte Erklärung zum Allgemeingut der Geowissenschaften verselbstständigt zu haben, denn oftmals wird er heute ohne Quellenangabe weitergetragen. Kurios: In den Uni-Bibliotheken stehen diese Bücher neben solchen mit der korrekten Erklärung.Freier Fall versus Trägheit
„Um die zweite Flut richtig zu erklären“, so Schmidt, „muss man sich ein wenig mehr Zeit nehmen und zunächst die newtonsche Theorie vom freien Fall und von den Umlaufbahnen verstehen.“ Im Weltall sind Mond und Erde durch gegenseitige Massenanziehung, die sogenannte Gravitation, miteinander verbunden. Das bedeutet, dass sie sich permanent im freien Fall aufeinanderzubewegen. Allerdings krachen sie niemals ineinander, weil der Mond außerdem eine Eigenbewegung senkrecht zur Fallrichtung ausübt, die durch die sogenannte Trägheit verursacht wird: Der Mond möchte die einmal eingeschlagene Bewegungsrichtung beibehalten, würde sich demnach immer weiter von der Erde wegbewegen. „Im Zusammenspiel bewirken Trägheit und Gravitation eine Umlaufbahn des Mondes in gleich bleibendem Abstand um die Erde“, sagt Schmidt.
Die Gravitation hat zudem eine zweite wichtige Eigenschaft: Sie wächst, je näher sich die beiden Massen kommen. Wenn Mond und Erde tatsächlich aufeinander zufallen würden, dann würden beide Himmelskörper ihr Tempo bis zum Zusammenstoß permanent erhöhen. Das passiert zum Glück nicht, eben wegen der ausgleichenden Trägheit.
Gezeitenkraft
Aber weil unser Planet einen Durchmesser von ungefähr 12.700 Kilometern aufweist, wirkt die Anziehungskraft des Mondes innerhalb der Erde unterschiedlich stark: Die Seite der Erde, die dem Mond zugewandt ist, wird stärker angezogen – würde also schneller auf den Mond zustürzen – als die dem Mond abgewandte Seite. Diese Differenz der Anziehungskräfte, die sich durch die verschiedenen Abstände zum Anziehungszentrum, in diesem Fall also vom Mond, ergibt, ist die sogenannte Gezeitenkraft.

“Spaghettisierung”
Um dies zu veranschaulichen, vergleicht Wolfram Schmidt die Erde mit einem Astronauten: „Stellen Sie sich vor, ein Astronaut stürzt kopfüber in ein schwarzes Loch. Dann wird er in die Länge gezogen und irgendwann zerrissen, weil der Kopf schneller stürzt als der Rumpf und der Rumpf schneller als die Füße. Im Ergebnis entfernt sich der Kopf immer weiter vom Rumpf, und die Füße bleiben zunehmend hinter dem Rumpf zurück. Man nennt das bildhaft die Spaghettisierung des Astronauten.“
So verhält es sich auch auf der Erde: Die Seite der Erde, die dem Mond zugewandt ist, wird stärker angezogen, stürzt also schneller im freien Fall. Zum Glück ist die Gezeitenkraft des Mondes zu schwach, um Berge aus dem Erdkörper zu reißen.
Zwei Wasserberge
Die Gezeitenkraft zieht die Wassermassen der Meere, die dem Mond zugewandt sind, stärker an und formt so einen Wasserberg, der quasi dem abgerissenen Kopf des Astronauten entspricht. Das ist die Erklärung für die eine, dem Mond zugewandte Flut. Zugleich fällt auf der dem Mond abgewandten Seite der Erde das Wasser zurück; wie die Füße des Astronauten stürzt das Wasser langsamer dem Mond entgegen. So entsteht ein zweiter Wasserberg: die zweite Flut.
Weil unser Globus sich permanent dreht, wirkt die vom Mond ausgeübte Anziehungskraft stets in einer anderen Richtung durch den Globus. Im Ergebnis wandern die beiden Flutberge permanent um den Globus. Zumindest würden sie immer die Runde drehen, wären da nicht die Küsten, an denen sie abprallen und im Laufe der Erddrehung wieder zurückschwappen.

So weit die für Laien halbwegs nachvollziehbare Erklärung der zweiten Flut. „Um ehrlich zu sein: Die wirklich korrekte Erklärung ist noch um einiges komplizierter“, sagt Schmidt. „Aber eines ist sicher: Die Fliehkraft spielt in dieser astronomischen Sichtweise keine Rolle.“
Aus Sicht der Erde
Bleibt die Frage: Warum bemühen so viele Autor*innen, sogar der hervorragende Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar, die Fliehkraft, wenn sie nicht relevant ist für die Gezeiten? „Das liegt daran, dass man die Gezeiten auch aus dem Erdsystem heraus erklären kann“, sagt der Hamburger Astrophysiker Schmidt.
Allerdings müsse man dann einen Gedankensprung vornehmen: Die astronomische Perspektive des sogenannten Schwerpunktsystems betrachtet das Geschehen im All als ein System von Zweierbeziehungen, die sich jeweils um einen gemeinsamen Schwerpunkt drehen. In den Worten von Ranga Yogeshwar: „… bilden Erde und Mond ein gemeinsames System, welches um einen gemeinsamen Schwerpunkt dreht. Weil jedoch Mond und Erde unterschiedlich schwer sind, liegt die Drehachse nicht in der Mitte, sondern Richtung Erde.“ Diese Sichtweise suggeriert, dass ein unbeteiligter Beobachter etwa auf einem Stern sitzt und von außen die Zweierbeziehung von Erde und Mond betrachtet.
Die Fliehkraft ist nur eine Illusion
Tatsächlich beobachten wir die Gezeiten auf der Erde, sind also Teil des Mond-Erde-Systems. Und hier fühlt sich die Zweierbeziehung der beiden Himmelskörper grundsätzlich anders an. Um das zu verstehen, können Sie sich einen schweren Mann vorstellen, der ein kleines Kind an den Händen hält und sich um seine eigene Achse dreht. Die Drehung lässt das Kind von dem Mann wegstreben. Um diese gefühlte Fliehkraft – hier taucht der Begriff auf! – auszugleichen, lehnt sich der Mann ein wenig zurück, damit er selber das Gleichgewicht behält. Also dreht der Mann sich nicht exakt um seinen eigenen Schwerpunkt, sondern um den gemeinsamen Schwerpunkt des Mann-Kind-Systems. Im Ergebnis eiert der Mann ein wenig, ebenso wie die Erde eiert in ihrer drehenden Zweierbeziehung mit dem Mond.
Allerdings existiert die Fliehkraft nur innerhalb des Systems: Ein dritter Mensch, der den beiden bei der Drehung zuschaut, spürt die Fliehkraft nicht, weil er von außen – quasi aus der Perspektive der Astronomie – auf das Schwerpunktsystem Mann-Kind schaut. „Das Gleiche gilt im Schwerpunktsystem von Erde und Mond“, so Wolfram Schmidt. „Im Innen, also auf Erde und Mond, ist die Fliehkraft sehr wohl zu spüren – obwohl sie im Außen nicht existiert. Daher bezeichnen Physiker die Fliehkraft als eine Scheinkraft.“
Die Trägheit suggeriert uns die Fliehkraft
Denn tatsächlich ist das, was der Mann und das Kind als Fliehkraft wahrnehmen, das Zusammenspiel von gemeinsamer Drehung und Trägheit. Wir erinnern uns: Eigentlich würde der Mond wegen seiner Trägheit wegfliegen von der Erde. Aber die Gravitation, also die Kraft, die Erde und Mond verbindet, sorgt dafür, dass der Mond seinen Abstand zur Erde behält. Ebenso würde das Kind in einer geraden Flugbahn wegfliegen, wenn der Mann es loslassen würde. Da er es festhält, dreht sich das Kind im Kreis um den Mann bzw. drehen beide um einen gemeinsamen Schwerpunkt.

Wenn man nun die Gezeiten aus der Perspektive des Erdsystems erklären will, dann muss man in Gedanken von der Außensicht des Schwerpunktsystems in die Innensicht des Erdsystems springen. Dieser Gedankensprung lässt sich mathematisch herleiten und bringt die Fliehkraft ins Spiel. Wer diese Umrechnung nachvollziehen kann und will – ich kann es nicht –, dem empfiehlt Wolfram Schmidt zum Beispiel das Buch
.Gefühlte Realität auf Erden
Nach der Umrechnung ins Erdsystem kann man durchaus das Phänomen der Fliehkraft zur Erklärung der Gezeiten benutzen, weil es alltagstauglich und somit anschaulich ist. Doch sollte man sich stets bewusst sein, dass die Fliehkraft nur scheinbar existiert, dass also die folgende Erklärung lediglich aus der gefühlten Realität des Erdsystems argumentiert:
Die scheinbare Fliehkraft wirkt überall auf der Erde in dieselbe Richtung, und zwar immer weg vom Mond. Um noch mal das Mann-Kind-Bild zu bemühen: Der Mann fühlt eine Fliehkraft, die immer in dieselbe Richtung strebt: weg vom Kind.
Zudem wirkt die Anziehungskraft des Mondes im Erdsystem unverändert wie im Schwerpunktsystem: je näher am Mond, desto stärker und außerdem stets auf den Mittelpunkt des Mondes ausgerichtet.
Zurück zu Ranga Yogeshwars Zitat: „Bei dieser Rotation eiert unsere Erde also leicht, und die mondabgewandte Seite bewegt sich schneller. Ergebnis: Die Fliehkraft erzeugt einen zweiten Wasserberg.“
Vergessen Sie die Fliehkraft!
Dazu bemerkt Wolfram Schmidt: „Yogeshwar redet von der Rotation, also der Drehung der Erde um ihre eigene Achse. Er meint aber die sogenannte Revolution des Erde-Mond-Systems, die an allen Orten auf der Erde eine gleich starke Fliehkraft in dieselbe Richtung bewirkt – wenn man die Gezeiten aus Sicht des Erdsystems erklären will. Im Erdmittelpunkt gleicht die Fliehkraft die Anziehungskraft des Mondes gerade aus. Der zweite Wasserberg entsteht also nicht durch eine stärkere Fliehkraft auf der mondabgewandten Seite, sondern durch die schwächere Anziehungskraft des Mondes. Somit sind wir wieder bei derselben Ursache wie im astronomischen Schwerpunktsystem angelangt: Es ist die Differenz der Anziehungskräfte des Mondes. Deshalb: Vergessen Sie die Fliehkraft!“

Für den Astrophysiker Schmidt ist dieser Sachverhalt ein Lehrstück dafür, dass es nicht möglich ist, komplexe physikalische Sachverhalte so zu reduzieren, dass sie in wenige Sätze passen. „Ich weiß sehr genau, was Yogeshwar sagen will, wirklich falsch ist seine Aussage auch nicht, aber diese diffuse Erklärung mit der Fliehkraft vermittelt im Ergebnis ein schiefes Bild. Zwar ist das Bild aus unserer Perspektive als Erdbewohner*innen irgendwie nachvollziehbar, dennoch bleibt es falsch.“
“Wie bei Stille Post”
Gleich oder ähnlich irreführende Erklärungen der zweiten Flut mittels Fliehkraft hört und liest Wolfram Schmidt häufig. „Es scheint wie bei dem Kinderspiel Stille Post zu funktionieren: Jeder gibt das weiter, was er verstanden hat, und am Ende kommt ein Satz raus, der nur wenig mit dem Ursprung zu tun hat.“
© Hans Wille, Salzwassermedien.
Diese Recherche wurde ermöglicht durch ein Stipendium der VG Wort im Rahmen des Bundesprogramms NEUSTART KULTUR der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien. Vielen Dank!
Veröffentlichung — auch in Auszügen — gerne, aber nur nach Honorarabsprache.
Sehr spannend zu lesen! Tolle Bilder! Ein wissenschaftlliches Thema — auch für Nicht-AstropsysikerInnen verständlich dargestellt. Sehr angenehm unaufgeregt geschrieben, und gleichzeitig ist der Text aufregend, verlangt, das Denken in Bewegung zusetzen und bewirkt Zufriedenheit, wenn dies gelingt! Sehr inspirierend! Danke für Deine Arbeit.